Berlin Ragnarök – Tag Eins, Teil 1: Von allen Seiten

[Voriger Teil: Tag Null]

„Was kriegste?“ Leon „Trotz“ Blumental hing, mit sich selbst und der Welt unzufrieden, an der Bar vor seiner geleerten Flasche und sah über deren Rand hinweg den Barkeeper an, der ganz standesgemäß mit einem Handtuch über dem Arm bewaffnet gerade eine Reihe weiterer Biere für einen Pulk Touristen am anderen Ende des geschwungenen Stahltresens vorbereitete. Er hatte jetzt einfach genug von seinen alten Chummern. Klar hatte er ihnen eine Menge zu verdanken, schließlich stammten 100% seiner Einbauten aus ihren Beständen. Aber für heute Abend reichte es. Er stützte sich mit beiden Ellenbogen auf den von tausenden Ärmeln der letzten dreißig Jahre blankgewienerten Tresen und beobachtete eine Schaumblase, die dem Zug der Schwerkraft folgend an der Innenseite der Kiezbraubierflasche herunterglitt.
„Lass mal, Trotz, das geht auf mich“, winkte Raffi, dessen wahren Namen dem Vernehmen nach noch nie jemand gehört hatte, ab. Der dunkelhaarige Elf mit mysteriöser Augenklappe war immer ein guter Zuhörer gewesen, auch wenn Leon über ihn nicht viel mehr wusste, als das er hier im AnarchoNoir regelmäßig Schichten übernahm.
„Supi, bin grad eh zahlungsunfähig.“ Er ließ sich vom abgewetzten Barhocker rutschen und trottete zum Ausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein Daumen Hoch nach hinten ergänzte Trotz‘ Abgang aus der Kellerbar am Tempelhofer Berg.
Irgendwann im Laufe des Nachmittags schien die Matrixverbindung der Bar unterbrochen worden zu sein. Jedenfalls funktionierten seit Stunden weder die Unterhaltungselektronik, noch die Bezahlsysteme. Zum Glück gab es Getränke eh nur aus Flaschen, so dass dieser Ausfall die Stammgäste des Anarchotreffs eher weniger interessierte, da das gemeinsame Absingen alter Kampflieder den Ausfall der Unterhaltungselektronik schnell vergessen machte, und die anwesenden Touris das Ganze für eine geplante Performance hielten.
Vielleicht war es das, was Trotz aus dem Laden trieb. Diese Lieder begleiteten ihn schon sein Leben lang, und er hatte sich nun einmal entschieden, einen anderen Weg einzuschlagen.
Vielleicht brauchte er auch einfach nur ein wenig Bewegung. Irgendetwas lag in der kalten Nachtluft, die Trotz umfing, als er einen letzten Gruß an seine alten Kampfgefährten in die leere Luft zeichnete, auch wenn dieses Etwas nicht wirklich bis in die verräucherte Kellerbar vordrang.


Es war später Abend. Bronn und Aron saßen in Bronns Garage und sahen sich Arons neue Yamaha Rapier an. Die Aufkleber der Kreuzritter waren entfernt, der eilig noch in Piefkes Gartenanlage in Ludwigsfelde aufgebrachte Farbüberzug auf diversen Teilen des Motorrades war abgeschliffen, und die Maschine war einer gründlichen Wanzensuche unterzogen worden. Gerade hatte Bronn eine bauliche Eigenart der Yamaha entdeckt, und er deutete auf die freigelegte Hinterachse. „Schau mal hier, da hat irgendjemand einen Linearmotor in die Dämpfung gepackt. Das gleiche ist vorne auch, nebenbei.“
Aron schaute interessiert, aber nicht allzu verstehend. Der Zwerg jedoch war in seinem Element. „Du möchtest auf so einer Maschine ja nicht über jede Bodenwelle fliegen, nichwahr? Weil, das is‘ ja schon eine Rennbiene, und die sind normalerweise für gerade, flache Rennstrecken gebaut. Hier hat einer ein System eingebaut, bei dem die Bordelektronik die … mmm … Hügeligkeit vom Untergrund erkennt und über diese“, er klopfte mit dem Finger gegen ein Metallteil, „Führungsschiene die Radaufhängung variabel ein- oder ausfährt und damit das gleiche macht wie ein Stoßdämpfer, wenn dieses Ein- und Ausfahren den Rums von unten genau einsammelt. Nur eben nicht passiv, also als Reaktion auf die Stöße von unten, sondern aktiv, im Sinne von ‚ah, da kommt jetzt eine Bodenwelle, dann zieh ich das Rad mal so und so schnell so und so weit ein, um die Ausbeulung des Steins, der da unter mir vorbeiflutscht, exakt auszugleichen. Als Bonus gibts dann noch über die Rückleitung ein extrem schnell und genau erzeugtes Profil vom Untergrund. Eine feine Sache, und jetzt erklärt sich auch das Einstellfeld hier oben.“ Er tippte auf das an der Lenkerstange befestigten TaktiloPad. „Da kann man dann, wenn man will, auch Straßenprofile anlegen und verwalten und so. Wenn du das von Yamaha selbst haben wolltest, würdest du heute den Neupreis von der Dame hier nochmal drauflegen. Deswegen wird’s ja auch nicht mehr gemacht. Die heutigen mimetischen Dämpfer sind viel billiger, haben aber den baulichen Nachteil, daß sie erst bei etwa 80 Sachen ihr Optimum erreichen, was bei einer Rennmaschine wie der hier eigentlich voll gut ist, denn die fährt etwa 200 – zumindest in der Serienzulassung.“ Er fügte noch flüsternd hinzu: „Die man mit ein bissl Popeln am Chip auch aushebeln kann, aber das ist böööööse in diesen Landen.“ Dabei hielt er sich die Finger beider Hände an die Schläfen, um Teufelshörner anzudeuten. Mit normaler Stimmer fuhr er dann fort: „Naja, dieses Teil aber klebt auch bei 50 auf Kopfstein und fährt sich dabei butterweich, und das hat sich jemand richtig was kosten lassen.“
„Wow“, brachte Aron hervor, völlig überrumpelt von der Informationslawine, die der Zwerg auf ihn hatte stürzen lassen. „Also was für Hämorihden-Opfer?“
„Genau“, strahlte Bronn. „Da hast du echt ein Schnittchen abgesahnt, und …“ er stockte mitten im Satz. „Hörst du das?“
Aron lauschte. Jetzt hörte er es auch: ein ratterndes Dröhnen in der Ferne, dessen Grundfrequenz leicht anstieg, als würde sich ein Hubschauber nähern und dabei schneller werden. „Ein Heli?“
Bronn nickte. „Jepp. Das kommt hier wegen der Nähe zum S-K-Flugplatz häufiger vor, bedeutet aber fast nie was gutes, speziell wenn einer von denen auf dem Weg hierher ist.“ Er schaltete seine Arbeitslampe aus und öffnete die Tür im hinteren Teil der Garage. „Nur ’ne Vorsichtsmaßnahme“, zwinkerte er Aron zu. „Falls die hier landen und das Haus stürmen. Du willst dann nicht auch noch Türen auftoggeln.“
Aron wurde unheimlich zumute. „Ist das schon mal passiert?“ Ihm war die Vorstellung, sich von einer Horde in Kriegspanzerung gehüllten Trollen mit Sturmkanonen umringt zu sehen, ziemlich unangenehm. „Ich mein, es ist gerade Halb eins. Haben die keinen Feierabend?“ Bronns Erwiderung war nicht eben geeignet, ihn aufatmen zu lassen: „Feierabend? Dann müßten die ja aufhören, Unbewaffnete wegzuballern. Haha.“


Die kalte Berliner Abendluft klärte Trotz‘ verrauchten Schädel und ließ ihn kurz inne halten. Ein Geräusch bohrte sich in seine Wahrnehmung. „SK-Sicherheitspatrouille in Angriffgeschwindigkeit!„, funkte sein Unterbewusstsein und ließ ihn aufmerksam werden. Seine Cyberaugen suchten den Himmel rechts über ihm ab. Die Mauer an der Sektorengrenze zum SK-Gebiet lag nur einen Steinwurf entfernt in dieser Richtung.
Irgendetwas, zu groß für einen Vogel, zu klein für einen Drachen, schien da am Himmel von dem SK-Hubi verfolgt zu werden.
Der frischgebackene Anarchistenkrieger a.D. zögerte ein, zwei Sekunden, schätzte die Entfernung, kam zu dem Ergebnis, dass beide Flugobjekte diesseits der Mauer unterwegs waren, dann setzte er sich in Bewegung, großzügig unterstützt von schnelligkeits- und kraftverstärkender Cyberware, die er sich in seinen Körper hatte einbauen lassen, um – Ironie des Schicksals – in seinem Kampf gegen die großkapitalistischen Ausbeuterkonzerne effizienter zu sein. Dieselben großkapitalistischen Konzerne, die seine Cyberware hergestellt hatten. Mit ihren eigenen Waffen schlagen – man wurde im Lager der Antikapitalisten nicht müde, diese etwas holperige Rhetorik stets als Rechtfertigung für neues Einbauspielzeug vorzuzeigen. Auch das hatte er zehntausendmal gehört und als zunehmend unehrlich empfunden.
Mit einem olympiareifen Spurt überbrückte er in wenigen Sekunden die Entfernung zwischen seiner Position und der schmalen Auffahrt auf der anderen Straßenseite, die zu einem Anfang dieses Jahrhunderts errichteten ehemaligen Pflegeheim und dem Wohngebäude aus den Anfangsjahren des vorherigen Jahrhunderts führte. Dort konnte man auf das unbebaute Gelände dahinter gelangen.
Eine weite Brachfläche, annähernd 150*50 Meter groß, bot ihm ein ausgezeichtetes Sichtfeld, als er das Ende der Auffahrt erreichte. Hier hatten SK-Truppen vor knapp einem Jahrzehnt für ein besseres Schussfeld alles eingeebnet.
Trotz konnte sich noch genau an diese Nacht erinnern. Seine Mutter war damals mit ihm hier gewesen. „Damit du mit eigenen Augen siehst, wie Konzerne vorgehen“, hatte sie gesagt. Als wenn er das damals mit fünfzehn nicht schon längst gewusst hätte. Er hatte bereits Schlimmeres gesehen als Zwangsräumung und Sprengung von Wohnraum, aber das musste seine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Der Helikopter schien am anderen Ende der Brache in der Luft zum Stehen gekommen zu sein. Gegen das Licht eines Flutlichtstrahlers, der vom Helikopter in einen nahen Hof gerichtet worden war, erkannte Trotz eine Reihe schwer gepanzerter Gestalten, die sich vom Heli abseilten.
Bodentruppen!
Er beschleunigte erneut, um der Sache auf den Grund zu gehen. Der Hubschrauber hatte etwas gejagt. Wenn Saeder-Krupp etwas haben wollte, dann war das beste, was ein ehrlicher Mensch tun konnte, immer: intervenieren.


Der Zwerg hatte kaum seine Einschätzung über die Psychen von Konzernsoldaten komplettiert, als ein lautes, aber schon dem Klang nach ungewöhnliches Geräusch durch das Garagentor drang, das sich anhörte, als wäre dort draußen im Hof zwischen den beiden Häuserzeilen des Kreuzberger Baustils ein Zwei-Tonnen-Sack Blumenerde vom Himmel gefallen. Zeitgleich zu dem Wumpf-Einschlag bebte der Boden, was Aron die Idee mit dem Sack Erde noch plausibler machte. Lediglich das sich anschließende Poltern mit deutlich geringeren Erderschütterungen paßte nicht wirklich dazu.
Bronn hastete durch die Verbindungstür aus der Garage in sein Wohnzimmer, um eine Sicht auf den Hof zu haben, und kam gerade noch rechtzeitig, um durch die Schlitze der mit Brettern vernagelten Glastür zu sehen, daß die Nacht draußen schlagartig hell beleuchtet wurde. Allerdings nicht von oben, wie an Tagen üblich, sondern von der Seite. Von rechts. Von dort, wo auf dem Nebengrundstück nur freie Fläche vorherrschte, weil die dort dereinst vorhandenen Bauten einer längst verschwundenen Brauerei bei den Kämpfen ’55 von Saeder-Krupp-Truppen dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Hier war auch das ihm plötzlich wieder auffallende Geräusch des Hubschraubers viel lauter und deutlicher. Und: es veränderte sich nicht mehr, ganz so, als ob der Heli nun auf der Stelle schweben würde. „Das ist gar nicht gut“, murmelte er zu sich selbst.
Schattengleich erschien plötzlich und lautlos Aron neben ihm. „Wir sind hier im Dunklen, also ziemlich unsichtbar“, wisperte der Psioniker. „Damit kenn ich mich aus.“ Sprachs und schlich zum Fenster, um durch die Bretter zu spähen. „Ah, ja“, flüsterte er und winkte Bronn heran. Was sie sahen, unterstützte Arons vorige Sack-Blumenerde-Hypothese eindrucksvoll, denn der Schattenwurf, den der seitlich in der Luft stehende Helikopter auf dem mit Erde bedeckten Boden des einst als Garten genutzten Stückes Hof erzeugte, zeigte eine etwa trollgroße Vertiefung im Humus etwas rechts seiner Position. Von dieser führte eine Schneise nach links weg, aus der Erdbröckchen zur Seite geschleudert worden waren. Dort war offenbar soeben ein von rechts kommender Körper in relativ spitzem Winkel und nicht allzu hoher Geschwindigkeit aufgeschlagen und nach links weitergeschliddert. Beide konnten sich aber nicht erklären, was außer einem Meteoriten so einfach vom Himmel fallen konnte, ohne wie jedes normale maschinell angetriebene Fluggerät vernünftig in Flammen aufzugehen.
„Bin gleich wieder da“, grollte Bronn und verließ das Zimmer wieder. Aron starrte derweil durch die Bretterlücken und überlegte, was die Furche da draußen erklären könnte. Nach wenigen Sekunden kündigten die schweren Schritte des Zwerges von dessen Rückkehr.  „Tango, ja?“ In die Worte des um seine Freizeitbeschäftigung gebrachten Riggers mischte sich das Geräusch einer Maschinenpistole, die soeben durchgeladen und entsichert wurde. Aron drehte sich um und sah den Kurzen in den Streifen des Lichtes hinter der Tür einen entschlossenen Gesichtsausdruck zur Schau stellen, während der eine Bleispritze einsatzbereit in beiden Händen hielt. „In meinem Hof, ja?“
„Warte, Freund Halbhoch“, versuchte Aron den nach Action gierenden Zwerg zu bremsen. „Wir müssen erst einmal herausfinden, ob und wenn ja wer sich da zeigt. Das macht ja durchaus manchmal einen Unterschied. Laß uns zunächst mal beobachten. Bisher ist da nur ein Hubschrauber. Der kann beliebig dicke Ballermänner an Bord haben, und das wär dann ein kurzer Spaß für uns, findest du nicht?“
Bronn grunzte kurz, und Aron hielt das für eine Bestätigung. Also warteten sie und beobachteten.


Trotz schätzte die Entfernung zum Hubschrauber noch auf 150 Meter. Keine weltbewegende Entfernung, aber die Zeit war knapp, und die Soldaten würden ihm nicht den Gefallen tun, mit dem zu warten, was sie vorhatten. Die Brachfläche allerdings machte das Rennen zu einem durchaus herausfordernden athletischen Problem. Hier hatten einst Häuser gestanden, und der Boden bestand größtenteils aus Ziegelsteinstrümmern, deren Größe von einzelnen Backsteinbruchstücken bis zu zusammengebackenen Teilen von Hausmauern bestand, die durchaus zweihundert Kilogramm wiegen konnten. Glücklicherweise waren seine Cyberaugen den Sichtverhältnissen gewachsen und konnten seine Schritte über sicheren Grund führen. Er wußte, daß jede Sekunde zählte, also biß er die Zähne zusammen und jagte so schnell, wie es seine Bodyware zuließ, über das Ruinenfeld.
Dann, als der Kopter in greifbar erscheinende Nähe gerückt war, blendete plötzlich ein Suchscheinwerfer an dessen Heck auf und warf einen Lichtkegel, der den sprintenden Anarchisten aus dem Dunkel der Nacht holte und wie ein klebriger Schleim auf ihn fokussiert blieb. Die Methode „unerkannt und überraschend“ hatte somit schon einmal nicht funktioniert. Aus einem Außenlautsprecher des Fluggerätes blaffte ein herrisches Kommando: „Saeder-Krupp-Konzernsicherheit! Bleiben Sie stehen!“
Trotz hatte natürlich nicht vor, diesem Vorschlag Folge zu leisten, denn wenn man in Bewegung blieb, konnte der Pilot nicht so gut Gegenmaßnahmen ergreifen. Solche Gegenmaßnahmen bestanden üblicherweise in der Anwendung irgendwelcher vollautomatischer Waffen auf den diversen Ankerpunkten der jeweiligen Flugmaschine, und über Gesteinstrümmerlandschaften rasende Passanten waren von derlei Maßnahmen etwas weniger beeinträchtigt als reglos in der Gegend herumstehende. Da Trotz seinen Körper und sein Leben durchaus mochte, erübrigte sich die Möglichkeit, der Lautsprecherdurchsage zu entsprechen. Der Scheinwerfer half offenbar dem Piloten, die Annäherung des vercyberten Straßenkriegers zu erkennen, also, schloß Trotz, wäre ein guter Teil der Bedrohung durch die Waffensysteme des Kopters schon dadurch eliminiert, daß der Scheinwerfer deaktiviert würde. Glücklicherweise trug er einen Scheinwerferdeaktivator mit sich herum, den er vor langer Zeit von seiner Gruppe erhalten hatte. Dieses von der Firma Ares Arms hergestellte Produkt gehörte zur Klasse der schweren Pistolen, und Trotz zögerte nicht, aus vollem Lauf mit beiden Füßen gegen einen großen Trümmerklumpen zu springen, um seine Vorwärtsbewegung aufzuzehren, gleichzeitig mit einer fließenden Bewegung den Predator aus dem Holster zu ziehen und auf den etwa vierzig Meter entfernten Scheinwerfer zu richten. Er dankte im Stillen seinem schon lange beerdigten Freund und begabten Agitator Hesse für das jahrelange Schießtraining, ging ins Ziel, zögerte eine Millisekunde zum Anvisieren und schoß dann. Sofort senkte sich wieder Dunkelheit über das Gelände.


Die beiden ungleichen Runner hatten nur wenige Augenblicke in ihrem verdunkelten Beobachtungsstand warten müssen, als die Gestalten auftauchten, mit denen der an S-K-Leute gewohnte Wohnungsbesitzer gerechnet hatte. Zwei anhand der diversen an exponierten Stellen der Vollrüstungen angebrachten Logos unschwer als Saeder-Krupp-Konzernsicherheit zu erkennende Soldaten mit Sturmgewehren im Anschlag pirschten vorsichtig durch das Gelände, taktisch vorteilhaft mit dem Flutlicht des Hubschraubers im Rücken. Dann quakte aus Richtung des Hubschraubers eine verstärkte Stimme herüber, die auch über den Lärm der Rotoren gut zu verstehen war: „Saeder-Krupp-Konzernsicherheit! Bleiben Sie stehen!“ Gleich darauf fiel irgendwoanders ein einzelner Schuß. Aron runzelte die Stirn. „Sie“? Da war jemand vom Himmel gefallen – und rannte dann auch noch vor den Soldaten davon? Er war sich sicher, daß er noch nie einen Troll oder ähnlich widerstandsfähige Wesenheit gesehen hatte, der oder die nach einem solchen Aufschlag noch in der Lage gewesen wäre, für den kurzen verbleibenden Rest ihres Lebens auch nur oben und unten zu unterscheiden.
Noch in seine Verwunderung blendete eine weitere Erkenntnis ein. „Chef, jetzt nichts unüberlegtes“, zischte er Bronn zu. „Ich wette meinen zarten Popo, daß die nicht nur zu zweit sind. Mindestes zwei weitere kommen noch nach. Das is bei denen so Standard, wenn ich mich recht erinnere. Wir sollten ihnen, wenn wir das riskieren wollen, in den Rücken fallen, weil wir dann die Funzel im Hubi hinter uns haben. Und vielleicht wär es besser, wenn ich das mache. Deine Plempe da sagt sehr deutlich, wo sie ist. Leti mille repente viae. Wissnschon.“
Bronn machte eine fragende Grimasse, und Aron wiederholte auf Deutsch: „‚Schnell führen tausende Wege in den Tod‘ ist die hierzulande bekannte Variante. Tibull, 30 vor Krr.“
Ungeduldig richtete sich der Zwerg auf und spurtete zum Eingang des Zimmers. „Ich komm von hintenrum – ja, die müssen nich wissen, wo ich wohne, aber jetz‘ is Tango! Mach du von hier, was du willst.“ Aron hörte noch das Zuschlagen der Wohnungstür, dann war er allein. Er seufzte und konzentrierte sich auf das, was jetzt vor ihm lag.


Trotz entspannte sich ein wenig, obwohl er nach der Vernichtung des Scheinwerfers sofort wieder unter aller Aufbietung seiner Kräfte lossprintete. Die unmittelbare Gefahr war durch die Zerstörung des Suchscheinwerfers zwar nicht völlig gebannt, aber deutlich reduziert. Nun würden die Konzernsklaven erfahren, daß die Bevölkerung es nicht guthieß, wenn von Großkapitalisten entsendete Schergen gegenüber den sich nicht den verbrecherisch aufgezogenen Machtsystemen unterwerfenden freien Individuen illegitime Dominanzgesten ausführten. Dazu gehörte als erste Lektion, dem Konzern eine empfindliche Schlappe beizubringen, indem Trotz den Hubschrauber entern und für seine eigenen Zwecke umfunktionieren würde, oder zumindest zerstören, wenn das nicht möglich war. Je öfter die Architekten des Bösen erfahren müßten, daß ihre teuren Einsatzteams nicht von ihren Versuchen, die freien Menschen zu unterjochen, zurückkehrten, desto weniger würden sie die Bevölkerung zu behelligen versuchen. Denn dort in den Konzernen regierte bekanntermaßen nur das Geld. Und so ein Hubschrauber kostete viel Geld. Sollten sie bluten. Alle.

Der Pilot des Hubschraubers, der da etwa acht Meter über dem Boden in der Luft stand und dem abgesetzten Team beim Sichern des entkommenen Zielobjektes als Rückendeckung diente, hatte naturgemäß eine etwas andere Perspektive auf das aktuelle Geschehen auf der Brachfläche als der anarchistische Aktivist. Zunächst hatte er über seine Außensensoren eine Gestalt registriert, die sich dem momentan für unbefugte Zivilpersonen gesperrten Gebiet auf ungewöhnlichem Weg näherte. Dann hatte die taktische Diagnostik festgestellt, daß das Bewegungsmuster und die Geschwindigkeit der Person auf massive Kampfwertsteigerung durch hochwertige kybernetische Einbauten schließen ließ. Überdies steuerte diese Person direkt auf das Einsatzgebiet zu, worauf der Pilot die Stufe Eins des Standardprotokolls befolgte, nämlich die Lautsprecherdurchsage mit der Aufforderung, stehenzubleiben, abspielte. Die Person reagierte durchaus darauf, nur leider nicht wie gewünscht, sondern sie zog augenblicklich eine Faustfeuerwaffe. Nur einen Sekundenbruchteil später meldete das Bordsystem den Ausfall des achteren Suchscheinwerfers. Der Taktikcomputer konnte beide Vorgänge logisch miteinander verknüpfen, worauf die geortete Person automatisch in den Status eines „Feindlichen Subjektes“ aufstieg und für das in den Kampfhubschrauber eingebaute Maschinengewehr die Schießfreigabe gegeben wurde. Nun mußte der Pilot nur noch zielen und den Feuerkontakt geben, um die Situation zu bereinigen. Tagesgeschäft. Es gab häufiger Großmäuler, die dachten, sie könnten einfach mit Steinen nach überlegenen Kräften werfen. Gelangweilt löste er per Gedankenbefehl die Schußabgabe aus.
Das MG spuckte sechs Projektile aus dem dem Angreifer folgenden Lauf aus, die die rasende Gestalt jedoch verfehlten. Direkt danach blendete eine Fehlermeldung des Geschützturms in das Wachbewußtsein des Riggerpiloten ein: MAXIMALER NICKWINKEL ÜBERSCHRITTEN, und dem Piloten wurde klar, daß dieses Subjekt sich nun außerhalb des Bereiches befand, den das MG bestreichen konnte – und damit wohl fast direkt unter dem Hubschrauber. Ein klarer Fall: das Außenteam mußte alarmiert werden, um den Rückzugsbereich zu sichern. Er aktivierte die Sprechfunkverbindung zum Außengruppenführer und begann mit der Schilderung der Situation.
Viel zu spät kam ihm zu Bewußtsein, daß die Seile, an denen sich das Außenteam heruntergelassen hatte, noch immer einladend da draußen herumflatterten. Die Gyrosensoren hatten bereits eine unerklärliche Änderung des Helikopterschwerpunktes registriert, und die PZero-Cam zeigte den oder die Verrückte sich in unnatürlicher Geschwindigkeit an den Ausstiegshilfen emporhangeln. Erst jetzt dämmerte ihm, daß sie beide – er selbst und sein neben ihm sitzender Kollege aus der Abteilung Offensivthaumaturgie – höchst gefährdet waren. Ihm entfuhr ein saftiger Fluch, und mit der freien Hand hieb er auf den Not-Knopf der Cockpitversiegelung.


Der Psioniker beobachtete immer noch angestrengt die draußen herumschleichenden Saeder-Krupp-Soldaten. Der Pilot des Hubschraubers schien jetzt irgendein Ziel gesichtet zu haben, denn aus heiterem Himmel begann in Richtung des Kopters ein MG zu rattern. Einschläge von großkalibriger MG-Munition konnte Aron aber nicht hören, also schoß der Pilot nicht auf etwas, was in der Nähe der Soldaten war, und auch nicht auf Bronn, sollte der schon irgendwie in den Erfassungsbereich der Helikopter-Sensorik geraten sein. Wie er durch die Bretterschlitze sehen konnte, war einer der beiden Soldaten beim Knattern des Geschützes hinter dem Stumpf eines großen Baumes, der hier einmal gestanden hatte, in Deckung gegangen und zielte zurück in Richtung Helikopter, während der andere zwar ebenfalls in eine low-profile-Stellung gegangen war, aber weiterhin dem ursprünglichen Ziel folgen wollte. Langsam schloß er die Augen und sammelte psionische Energie, tastete mit seinen Sinnen nach einem Punkt, der zwischen den beiden Gegnern da draußen lag und visualisierte eine Bombe, die genau auf diesem Punkt explodierte. Dazu atmete er stoßweise aus und öffnete dann, als er das Ziehen hinter seiner Stirn spürte, gerade noch rechtzeitig wieder die Augen, um den zweiten Soldaten steif umkippen zu sehen. Der erste lag bereits hinter dem Baumstumpf und mußte wie vom Blitz gefällt worden sein. Ein kurzer Moment des Schwindels verging, dann war sein Kopf wieder klar. Oder doch nicht? Staunend beobachtete er, wie sich in der Nähe der gegenüberliegenden Hauswand anscheinend ohne offensichtlichen Anlaß ein Erdhügel aufzutürmen begann. Ihm wurde kalt. Das begann jetzt, viel zu schnell zu eskalieren, und es wurde Zeit, besser zu sein als alle anderen.


Bronn war sauer. Seine Wut beschleunigte seinen Spurt noch mehr. S-K-Spacken in meinem Hof. TANGO, Alter!!! In Rekordzeit legte er den Weg durch die Toreinfahrt zurück, dabei ständig versuchend, seinen Meinungsverstärker nicht aus den Händen zu verlieren. An der Ecke zum immer noch hellerleuchteten Hof stoppte er abrupt, und rein zufällig pendelte die MPi durch das Abstoppen in eine Richtung, in der sich ebenfalls rein zufällig einer der Saeder-Krupp-Soldaten befand, der offenbar gerade einen Funkspruch entgegennahm. Der Zwerg konnte nicht ahnen, daß die Zwei-Mann-Vorhut gerade von Arons Betäubungsball flachgelegt worden war, und so das zufällig ausgewählte Ziel sich deswegen gerade in einer mentalen Streßsituation befand. Diese hatte zur Folge, dass der derart anvisierte Soldat seine eigene rückwärtige Deckung einen Moment lang vernachlässigte, da er nicht ganz unbegründet den Verursacher dieses Vorganges irgendwo vor ihm wähnte. Der Soldat wiederum ahnte nicht, daß dieser Fehler in der nächsten Sekunde schmerzhafte Konsequenzen für ihn haben würde. Als ihn die beiden Salven aus der Maschinenpistole in den starken Händen des nur 1,20 großen, aber immerhin 80 kg schweren und ziemlich aufgebrachten Zwergen trafen, war es zu spät für weitere Überlegungen, und er taumelte, von den Einschlägen der Projektile herumgeworfen, mit einem Schmerzensschrei zur Seite.
Bronn war vorerst zufrieden. Dieser Gegner würde eine Weile keine Gefahr mehr darstellen, denn er wußte aus Erfahrung, daß der Konzerngardist dank seiner hochwertigen Vollrüstung die Einschläge der Projektile zwar wie betäubend harte Hammerschläge empfunden haben mußte, aber bei diesen hochtrainierten Soldaten in vielen Fällen außer Prellungen und einem Platinliga-Schädelbrummen keine weiteren andauernden Schäden zurückblieben. Und es würde daher mindestens zwanzig Sekunden dauern, bis der Gardist wieder genug beisammen war, um vernünftig mit einer Schußwaffe umgehen zu können. Bis dahin würde sich natürlich ein Weg finden, den verhaßten Konzernsklaven flachzulegen. Zunächst aber müßte er …
Bevor er sich umdrehen konnte, um nach weiteren Zielen zu suchen, knatterte rechts von ihm ein Sturmgewehr, das ihm einige blaue Bohnen viel zu dicht an den Ohren vorbeifliegen ließ, und schimpfend warf er sich in Deckung. Wie viele von diesen Arschlöchern rennen denn hier noch rum??, fluchte er in sich hinein, während er versuchte, die Position des Schützen abzuschätzen. Noch nicht zur Ruhe gekommen, platzte erneut ein Stück Putz neben ihm von der Wand ab, während ein dumpfes Wummern davon zeugte, daß der Konzerngardist, den Bronn nicht schnell genug entdeckt hatte, jetzt offenbar eine schwere Pistole verwendete, um seinen heiligen Zwergenkörper in einen Emmentaler Käse verwandeln zu wollen. Er entschied sich, die Deckung, die ihn vor dem Pistolero schützte, voll zu nehmen und doch den zuerst getroffenen Gegner aus dem Spiel zu kegeln. Eine erneute gezielte Salve sorgte dann dafür, daß der noch stolpernde S-K-Soldat umkippte. Jetzt war Zeit für den zweiten Mitspieler. Mit aller athletischen Kraft, die er zur Verfügung hatte, sprang er auf, lehnte sich um die Ecke und warf eine weitere Salve aus der Hüfte in die Richtung, in der ihm sein Gespür den Pistolengardisten einflüsterte…


Aron schätzte, daß das sich manifestierte Erd-Geistkonstrukt etwa zehn Meter von dem vierten Saeder-Krupp-Soldaten erhoben hatte. Mit Erleichterung hatte er gesehen, wie Nummer Drei bewußtlos zu Boden gegangen war. Ein Ziel weniger, das Ärger machen konnte. Der erwähnte vierte Soldat des Teams jedoch hatte offenbar die Waffe gewechselt und gab ein paar Schüsse auf jemanden ab, der von Arons Position aus gesehen rechts außerhalb seines Blickfeldes aufgetaucht sein mußte, was gut mit Bronns Absicht zusammenpasste, durch die etwa dort befindliche Toreinfahrt ins Geschehen einzugreifen. Wenn ein zweiter Betäubungsball jetzt genauso gut funktionierte, hätten sie das Scharmützel gewonnen, ohne Federn zu lassen. Der einzige schwer zu kalkulierende Faktor wäre dann noch der Hubschrauber und dessen Pilot, der aber hoffentlich ohne sein Außenteam in diesen beengten Verhältnissen keinen wirklichen Vorteil mehr sähe und obendrein vielleicht das teure Fluggerät nicht unnötig gefährden wollen würde – immerhin konnte ein Gegner, der die abgesetzte Einheit außer Gefecht setzte, auch dem Helikopter selbst ans Leder wollen. Aber das würde der mächtige Zehn-Phasen-Aron jetzt einfach ausprobieren. Mit noch etwas mehr Wums, weil das sitzen mußte. Wie zuvor fokussierte er den Punkt in der Mitte zwischen den beiden so verschiedenen Zielen und sammelte noch ein wenig mehr Energie als beim ersten Einsatz seiner Fähigkeit. Als er die verdichtete Ladung mentaler Macht am Zielpunkt losließ, wurde ihm kurz schwarz vor Augen, und seine Ohren klingelten laut und deutlich. Aber er war erfolgreich, und ein triumphierendes Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er den Gardisten zusammenbrechen sah.
Mens vincet molem. Der Geist besiegt die Materie.
Der Seitenblick auf den Erdhaufen ließ ihn gequält aufstöhnen. Das Geistkonstrukt war getroffen, aber nicht besiegt, denn der mannsgroße Klumpen begann jetzt, sich zu bewegen, anstatt ordnungsgemäß in sich zusammenzufallen. Ohne groß nachzudenken, wiederholte er seine letzte Psi-Aktion, unterließ es aber, gar zu viel Energie zu investieren. Er kannte seine Grenzen inzwischen recht genau und wollte nicht den Rest der Nacht mit einem titanischen Migräneanfall in unbekannter Umgebung verbringen – inklusive nicht abschätzbar vieler invers-peristaltischer Entgleisungen. Zweimal war ihm das in den letzten Jahren passiert, ein drittes Mal wollte er unter allen Umständen vermeiden. Die Reserve, die er jetzt in den Knall legte, mußte reichen.
Der Stich im Kopf, den Aron empfand, als der Energiestoß sich vom Ort seines Entstehens ausbreitete und die stützende Struktur der in diesem Kubikmeter Erde kondensierten psionischen Macht zerpulverte, fühlte sich unangenehm hart und beißend an, und der dazu aufzuckende Kopfschmerz würde sehr wahrscheinlich einige Stunden anhalten, dafür aber wurde der Boden des unversiegelten Hinterhofes nun mit einem wunderschönen, unbelebten, in alle Richtungen Bröckchen verlierenden Humushaufen verschönert.


Trotz konnte selbst kaum glauben, daß die Reaktion des Kampfhubschraubers nicht deutlicher gewesen war, als er zu den aus dem Ladeabteil heraushängenden Seilen gerannt war und begonnen hatte, sich hochzuziehen. Er wußte, daß die Maschinengewehre in solchen Kampfhubis nicht unbegrenzt in der Gegend herumballern konnten, aber heute schien wirklich ein guter Tag zu sein, um die Konzerne und ihre Handlanger in ihre Schranken zu weisen. Mit zweimal hartem Zug am Seil schnellte er sich die letzten Meter hoch und kletterte ins Passagierabteil des Helis. Mit einem Blick sah er, daß die Durchgangstür zum Cockpit geschlossen war, und er glaubte, dort hinter der Tür eine Stimme zu hören, die in Panik irgendetwas schrie. Das konnte aber Einbildung sein, da hier oben der Lärm der Rotoren wirklich ohrenbetäubend laut war, was wiederum bei den offenen Seitenschotts nicht verwunderte.
Angesichts seines Plans, den Hubi zu übernehmen einerseits, und der geschlossenen und verriegelten Tür andererseits, was er durch einen kurzen Griff an den Türhebel bestätigen konnte, gingen Trotz die Handlungsoptionen aus. Außerdem mußte er damit rechnen, daß der Pilot die Außentüren schloß und irgendwelche Giftgase in den Innenraum strömen ließ, um ihn außer Gefecht zu setzen, oder den Kopter einfach 200 Meter oder mehr steigen ließ, um den dann auf die Seite zu legen, so daß Trotz einen recht unangenehmen Freiflug aus der Seitentür bekam (die für diesen Fall dann natürlich nicht geschlossen sein durfte). Solches mußte er schnellstens unterbinden, und wie in den Fällen, in denen jedes Problem wie ein Nagel aussieht, wenn man nur einen Hammer zur Verfügung hat, würde er dieses Problem mit der Pistole lösen. Er schätzte ab, wo in etwa der Pilotensitz sein müßte, und gab dann in schneller Folge zwei Schüsse durch die Cockpittür in die Richtung ab, in der er den Piloten vermutete. Falls das reichte, müßte er nur noch … nicht denken, machen!
Also trat er mit aller aufbringbaren Wucht gegen die Tür zur Steuerkabine. Die konnte dem harten Tritt des durch Einbaumaschinerie verstärkten Straßenkriegerbeins nicht genug an Stabilität entgegensetzen und zerbrach in drei Teile, von denen eines noch an der Schiebemechanik hängen blieb. Trotz hatte keine Zeit, nach dem Erfolg der beiden Schüsse zu sehen, denn sobald die Bruchstücke der Tür weggeflogen waren und den Blick ins Cockpit freigaben, gaben sie ebenfalls dem in der Kanzel wartenden Saeder-Krupp-Kampfmagier freie Sicht auf den anarchistischen Eindringling. Da jener nur darauf gewartet hatte, ein Ziel für seinen vorbereiteten Blitzstrahl zu bekommen, genügte ihm die erste Zehntelsekunde, die Trotz zu sehen war, um den Brachialzauber loszulassen. Doch wie so häufig unterschätzte der Magier die enorme Wirksamkeit eines gutgewarteten Reflexboosters. Für einen zufällig anwesenden Beobachter hätte es gewirkt, als ob Trotz schon die entscheidenden Zentimeter aus dem Schußfeld gewesen wäre, bevor der Zauberer überhaupt erst anfing, die magische Energie auf den Weg zu schicken. Und es hätte auch so gewirkt, als ob der S-K-Magier noch mit dem Schleudern des Blitzes beschäftigt war, als das Projektil aus der schweren Pistole in Trotz‘ Hand kurz oberhalb seines rechten Auges den Knochen des Stirnbeins durchschlug und auf dem Weg zum Os occipitale das bis dahin wohlgestaltete dort eingebettete Gehirn des Magiers in eine wüste Menge aus durcheinandergequirlten Proteinbrocken verwandelte. Das erwähnte Geschoß verließ natürlich den Schädel auf der Rückseite wieder und erzeugte dort eine bequem große Bruchöffnung, durch die sich die gerade erzeugten Hirnsubstanzportionen großflächig auf der Innenseite der nur von innen transparent erscheinenden Pilotenkanzel verteilen konnten.
Für den Revolutionskrieger war dank des auf Höchstleistung laufenden Reflexboosters der Zeitablauf ein wenig gestreckter gewesen, und er fand noch Zeit, den Blick zum Piloten schwenken zu lassen. Der aber hing bewegungslos und schlaff in seinen Gurten, während in Zeitlupe unter seinem Helm ganz langsam ein rotes Rinnsal zu plätschern begann, und als plötzlich die Cockpitbeleuchtung auf rot wechselte und die Turbinengeräusche begannen, sich ruckartig in höhere Frequenzen zu verschieben, wurde ihm klar, daß der Helikopter sich anschickte, auch ohne direkten Steuerbefehl eines steuernden Bewußtseins vom Ort des Geschehens zu flüchten. Er saß plötzlich in der Falle, denn seine Überlegung von eben war noch gültig: wenn das Fluggerät erst einmal genügend Höhenmeter gewonnen hatte, war ein Entkommen unmöglich. Er katapultierte sich ohne Rücksicht auf Kanten und Türfragmente aus dem Cockpit ins Passagierabteil und mußte bereits gegen den Andruck der steigenden Maschine kämpfen, als er, sich am Ausstiegsseil abbremsend, in die Tiefe sprang.


Bei Bronn regten sich allerdings Zweifel an seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit. Er war sich sicher gewesen, daß der Gardist an einer bestimmten Stelle des Geländes unweit der dieses vom Nachbargrundstück trennenden Mauer gestanden hatte, und hatte seine eilige Salve dorthin gefeuert. Seine Ahnung war falsch gewesen, und er hatte nicht mehr schnell genug die zwei Meter nach links korrigieren können. Trotzdem war der Soldat umgefallen. Ihm war auch seine Waffe aus den schlaffen Händern gefallen, was dafür sprach, daß er nicht nur so tat, als sei er getroffen worden. Mißtrauisch zielte der Zwerg auf die reglose Gestalt und wartete nur auf eine Gelegenheit, den S-K’ler endgültig auszuschalten, und er hoffte, daß der Pilot des immer noch kurz hinter der Trennmauer auf der Stelle schwebenden Hubschraubers, dessen Scheinwerfer immer noch den langen schmalen Hof ausleuchtete, nicht versuchte, den zwergischen Schwerstkriminellen dadurch zu finden, daß er einfach seine Munitionsvorräte auf das gesamte Gebiet verteilte und herumfliegende scharfkantige Splitter und Trümmer seinen Job machen ließ.
Allerdings vernahm er überraschend über das Stakkato der Rotoren, daß irgendwo in Richtung des Helikopters mit einer schweren Pistole geschossen wurde. Irgendwo ganz in der Nähe und nicht im Freien. Auch nicht in einer der Wohnungen hier – das Geräusch kannte er nämlich. Die einzige Möglichkeit, die ihm noch blieb, war der Helikopter selber. Im Hubi wurde geschossen. Ergab das einen Sinn? Seine Neugier siegte, und er lugte vorsichtig um die Ecke, bereit, jederzeit wieder in der Deckung zu versinken, bevor das MMG auf dem Hardpoint des Kampfhubschraubers Blei spucken würde.
Er zählte den dritten Schuß, als sich das Rotorengeräusch des Kopters veränderte. Träge wie diese Fluggeräte bauartbedingt waren, dauerte es volle eineinhalb Sekunden, bis das Hochfahren der Turbinen und die Änderung des Anstellwinkels der Rotoren die schwere Flugmaschine senkrecht nach oben reißen konnten. Was er da sah, war ein ausgewachsener Alarmstart, und der harte Windstoß, der ihn traf und der allerlei lose Gegenstände im Umkreis durch die Gegend wirbelte, ließ ihn taumeln und den Unterarm vor das Gesicht legen. Aber nicht schnell genug, als daß er verpaßt hätte, wie sich eine Gestalt im rasenden Tempo aus der Maschine stürzte, an einem der noch immer herabhängenden Seile herabrutschte, mit dem die Soldaten abgesetzt worden waren, und schließlich über die Trennmauer in Bronns Hof gesprungen kam.

[to be continued…]

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