Berlin Ragnarök – Tag Null

MORGEN

Die Rauchwolken stoben, von unten blutrot und manchmal gelblich beleuchtet, dem Himmel entgegen. Selbst hier, auf dem Bürgersteig gegenüber dem an der Hausseite, konnte man noch die Hitzestrahlung des brennenden Dachgeschosses spüren. Selly wandte den Blick von den Flammen ab, um seine Augen nicht gar zu sehr in den Tagesmodus zu versetzen. Aus dem Eingang des brennenden Hauses flohen immer noch Menschen, ihre Habseligkeiten rettend. Bevor er noch ein paar Jungs seiner Truppe zur Hilfe beim Tragen schicken konnte, piepte sein Mikrokom. Ahmed.
„Okay, wir sind oben. Wir lassen jetzt Wasser rein, aber die Hälfte brauchen wir, um die Neun-Eins zu kühlen. Ich sehe auf der anderen Seite Ludo, … ah, er winkt und nickt, also hört er uns… und er macht an der Zehn das gleiche. Wieviel Wasser bekommen wir?“
Das war die kritische Frage. In zentral gesteuerten Staatssystemen konnte man sich immer noch recht gut auf eine Berufsfeuerwehr verlassen und auf die Infrastruktur, die verläßlich die alten Regeln der noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Anfänge wirksamer Stadterhaltung durch Brandschutz durchsetzte. Nun ja. Das hier war Berlin, und hier war eine Feuerwehr immer etwas, was zu einem Konzern gehörte – und die löschte unerwünscht brennendes Konzerneigentum. Die vor Selly liegende Häuserzeile von Altbauten aus der sogenannten „Gründerzeit“ hatte leider nicht dieses Privileg, und so mußten sich die Bewohner des Viertels selbst helfen. Ressourcen waren chronisch knapp, und Wasser war eine davon. Nicht daß es prinzipiell zu wenig davon gegeben hätte – nein, es war lediglich so, daß die in Berlin ansässigen Konzerne den Bezirken ihre Wasserkontingente zuteilten. Zuerst die Konzerngebiete, dann die Villenviertel, und wenn dann noch etwas übrig war, dann durften auch Kreuzberg und Wedding und die anderen ärmeren Bezirke etwas davon haben. Jeder Brand war ein Kampf gegen die Uhr. Die Wasseruhr beispielsweise.
Der Ganger erinnerte sich an die Frage, die Ahmed gestellt hatte. Er räusperte sich. „Dreißigtausend Liter. Insgesamt.“
Aus dem Kom ertönte ein empörtes und frustriertes Schnaufen. „Du machst Witze, oder? Damit bekommen wir gerade den Dachboden kühl, aber die Brandquelle ist im Dritten, und das Wasser kommt da nicht an.“
„Ja, Mann, ich weiß, aber was soll ich machen? Von hier unten in die Flammen pissen? Stell die Düse auf Breit und laß sie in eine der Luken. Vielleicht haben wir Glück. Selly Ende.“ Er unterbrach den Kontakt und war sich sicher, daß Ludo alles mitgehört hatte. Die Jungs waren tüchtig, und sie nahmen ihre Aufgabe ernst. Gar nicht so schlecht für eine Amateurfeuerwehr ohne Löschdrohnen und ähnlichen Zinnober.
Dann stupste ihn jemand an. Fragen zur Koordination des Löscheinsatzes. Selly war der Dirigent, und er mußte dirigieren. Deshalb entging seinem Wachbewußtsein diese eine neblige Ahnung eines Gedankens, die sich erhoben hatte, als Ahmed vom Dachboden gesprochen hatte.


Aron Kloska wachte im Bett einer schönen jungen Dame auf, weil sein Kom seine Aufmerksamkeit haben wollte. Erwähnte junge Dame grunzte langsam erwachend etwas unverständliches und drückte ihm ihren mit keinerlei Textil verschandelten Hintern entgegen, nonverbal einen Wunsch ausdrückend, der mit „ich geh mal kurz ans Kom“ garantiert nicht kompatibel war. Unwillig, sich vom Duft ihrer Haut zu trennen, maulte er einen Fluch und griff nach dem Gerät. Oh. Selly. Ein Ganger, der in seiner Gegend so etwas wie eine Kontaktperson für Zickenplatz-Anwohner war. Als Aron abnahm, schien der ziemlich besorgt zu sein.
„Altah, alles klar? Du bist nicht zuhaus, oder? Dann hast du ja wohl Glück gehabt. Mann, wenn ich du wär …“
Der schlaksige junge Mann, der gerade einen bestimmten Hautkontakt in der Mitte seines Körpers wahrnahm, unterbrach den Ganger unwirsch, denn er kam jetzt gerade in Stimmung für Action, die mit Straßenleben nichts zu tun hatte. Nicht ganz unschuldig daran war der eben bereits in die Schilderung eingeflossene Hintern, deren Besitzerin ziemlich genau zu wissen schien, wie sie Arons morgendliche ohnehin harte Einstellung zu gewissen angenehmen Themen des Lebens für ihre flutschigen Zwecke nutzen konnte. Für ihn war klar, daß das Gespräch besser schnell vorbei sein sollte.
„Red‘ nich so ums warme Bier, Mann. Was is los?“ Unwirsch unterbrechen war eine seiner Superkräfte.
Selly kam offenbar ins Stolpern. „Äh, ja, also … naja, wie’s aussieht, hat einer bei dir im Haus im Dritten mit brennbarem Zeuch gespielt und verloren. Das ganze Haus is arg angekohlt, und wir hatten in der Nacht gut zu tun, die Häuser nebenan zu schützen. Deine Dachetage ist jedenfalls weg. Und mir is erst vorhin eingefallen, daß du da vielleicht noch drin warst. Das wär echt ’ne Tragödie gewesen, Mann, und …“
Eigentlich hatte Aron vorgehabt, Selly erneut unwirsch unterbrechen zu wollen, aber stattdessen drückte er in einer Art Escape-Reflex einfach den Kanal weg.
Meine schöne gemütliche Bude … abgebrannt? Okay, im Winter etwas zugig, aber das war doch kein Grund, die wegzuzündeln. Er stöhnte und legte sein Gesicht in die Hände.
Dann fiel ihm ein, was Selly gesagt hatte: „bei dir im Haus im Dritten“. Er erinnerte sich, daß da so ein paranoider Alki wohnte, der schon ab und zu durch benzinartigen Gestank im Hausflur aufgefallen war. Also, sowohl unter der Wohnungstür hervorkriechend als auch in Form einer Fahne, die er hinter sich herzog. Kalte Wut stieg in ihm auf, als ihm klar wurde, was er verpaßt hatte. Scheiße. Hätten wir ihm das doch nur rechtzeitig rausgeprügelt. In einem Anfall von Resignation ließ er sich nach hinten fallen und rief theatralisch ins Nichts: „Omnia mea mecum porto“. Er schielte zu seinem Rucksack, in dem er die gerade erst gestern gekaufte Munition für seinen Ballermann verpackt hatte.
„Ist das Italienisch für ‚Ich muß es dieser rolligen Lady hier und jetzt nochmal richtig besorgen‘ oder so?“ Die junge warme duftende Frau neben ihm, die hoffte, noch etwas Zuwendung zu bekommen, sah ihn über die Schulter verführerisch an. „Kein Vorspiel, schon naß!“ grinste sie und wackelte noch einmal auffordernd mit ihrem Glutaeus Maximus.
Leider waren Aron gerade alle tiefergehenden Ambitionen zum Thema Morgengestaltung vergangen, und irgendwie mußte er das dem heißen Schnittchen, das sich nach Penetration sehnte, wohl nun verklickern …


Aron blickte an dem noch rauchenden Haus hoch. Ja, da oben war sein Dachboden gewesen. Er war jetzt offiziell einer der vielen Kreuzberger Obdachlosen. Und Mittellosen. Selly, der neben ihm stand, rüttelte an seinen schmalen Schultern. „Hättste was machen können außer zu rennen? Wenn nich: Glück gehabt. Ach“, er schlug sich gegen die Stirn, „da war ja noch was. Wenn du Bock auf ’nen Job hast, geh mal um 12 Uhr ins „Freudenstrand“ zu JaNu. So, wie’s hier aussieht, bist du da drin keine große Hilfe, und verwertbares Zeug gibts da oben auch nich mehr.“ Er gab Aron noch die Adresse, dann verzog er sich, um die letzten Aufräumarbeiten zu koordinieren.
Seufzend setzte sich der frisch entmietete Pechvogel in Bewegung. Auf seinem Display las er „Markgrafendamm 18“, und das Navi zeigte ihm eine Route durch Kartalabad. Das war, wie er wußte, nicht der kürzeste Weg, aber der Knowbot des Navis hatte eine Antwort auf die schnell gestellte Frage: „Brückensperrung Elsenstraße 2./3. November 2064, angeordnet durch Proteus AG„. Auch das noch. Immerhin waren die Musils in SO36, wie die Ecke des Emirats immer noch von den alten Leuten genannt wurde, nicht ganz so verbohrt wie deren „Brüder“ westlich der Prinzenstraße, und der Weg durch deren Territorium daher mit weniger Schwierigkeiten verbunden. Aber trotzdem: religiöse Fanatiker waren zuallererst Fanatiker und damit immer eine Bedrohung.

An diesem Tag schien alles anders zu sein. Die üblichen abschätzigen oder auch abfälligen Blicke, die leicht in Pöbeleien gegen den hageren jungen Mann Anfang 20 mündeten, der mit seiner braunen Lederjacke und einem Zylinder über der grünverspiegelten Sonnenbrille nicht unbedingt furchterregend aussah, fehlten heute komplett, so daß Aron sich den Luxus gönnte, auf dem Weg zur Warschauer Brücke in Gedanken seine bevorzugte Version des Verlaufes des heutigen Morgens zu rekonstruieren. Angefangen mit der Ansage der Lady mit dem schönen Namen „Shia“, daß das Vorspiel entfallen dürfe, entschied er sich, sie zunächst wie gewünscht ordentlich und mit Wucht von hinten ranzunehmen, wobei er sie fest an ihren langen seidigen Haaren zog und ihren Kopf zwang, sich nach hinten zu biegen. Als nächstes würde er dann einigen Speichel auf ihrem Anus verteilen und dann …
Plötzlich brach sein Sinn für die Realität durch die schöne Fantasie. Irgendetwas stimmte nicht, und es war nicht eindeutig, wo die Gefahr lag. Er blickte sich um und sah nichts und niemanden ungewöhnliches – was eindeutig ungewöhnlich war, war er doch auf kartoffelfeindlichem Territorium. Einzig das orkische türkische Mädchen, das etwa zwanzig Meter hinter ihm schlenderte und in ihr Kom vertieft schien, schien ihm vage vertraut. Erst auf den zweiten Blick erkannte er es: Hamide.
Er hatte das Mädchen kennengelernt, als es von fünf Jugendlichen angegriffen worden war, die dachten, daß man eine Hauerschlampe locker klein bekommt, wenn man in der Überzahl ist und Baseballschläger hat. Leider hatten sie dann merken müssen, daß Hamide als Ork nicht nur groß und (anscheinend) plump war, sondern auch durch ihre Physiognomie bedingt erheblich kräftiger und flinker als geschätzt. Sie hatte einiges einstecken müssen und war schon ziemlich verbeult gewesen, als Aron vom Lärm angelockt die Szenerie betreten hatte, aber immerhin hatte sie zwei Jungs zu Boden geschickt und einen weiteren davonhumpeln lassen, der lauthals die zumindest temporäre Deaktivierung seiner Genitalien beklagte. Mit ihm selbst als weiteren Player auf der Bühne hatten die Verlierer sich verpißt, und er hatte Gelegenheit bekommen, seine heilenden Psi-Kräfte anzuwenden. Nachdem ihre Verletzungen wundersam verschwunden waren, hatte sie ihn ehrfürchtig angeblickt und geflüstert: „Bist du ein Scheddoranna? Meine Brüder haben mich immer rausgeworfen, wenn sie Scheddoranna-Trids geguggt haben, aber ich hab sie mir trotzdem reingezogen. Die können zaubern, und sie kämpfen gegen die Kons. Bist du auch so einer?“
Auf so viel naive Niedlichkeit nicht vorbereitet, hatte er nur kichern können und behaupten, er sei inkognito unterwegs, und sie müsse Stillschweigen bewahren, weil die Kon-Leute ihn sonst tracken könnten. Als er sich zum Gehen gewandt hatte, hatte sie ihm noch eine Ansage gemacht: „Wenn ich groß bin, werd ich auch Scheddoranna. Dann mach ich sie alle weg. Denk dran!“
Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis einige Leute die Auswirkungen dieses Versprechens auf sehr unangenehme Weise zu spüren bekommen sollten.

Jetzt stand sie vor ihm und sah ihn schon fast auf Augenhöhe an. Mit seinen 1,87m nicht eben eine Wurzel, war es nicht nur für ihn immer wieder ein Rätsel, wie diese Kinder so schnell wachsen konnten. Sie war jetzt acht Jahre alt und hatte seit der ersten Begegnung mit ihm noch einmal sieben Zentimeter zugelegt – innerhalb von vier Monaten. „Bist du geschrumpft?“ stichelte sie.
Er lächelte. „Auch kleine Leute können Großes leisten. Aber du wirst mir einfach demnächst über den Kopf wachsen, das ist alles. Deinem Vorhaben, eine große Kriegerin zu werden, kommt das ja zugute. Was machst du hier so zwanzig Schritte hinter mir, hm?“
Sie zeigte ihr unschuldigstes Gesicht. „Iiich? Nüx,… ich spazier hier nur so rum. War voll’n Zufall, daß du mich gesehen hast. Wo willste’n hin?“
Er senkte die Sonnenbrille ein Stück und sah sie über deren Rand an. „Nanana… du schwindelst, Mädchen.“
„Neeeeiiheeeeeeiiin, ehrlich. Ich lauf hier nur rum und chatte“, sprudelte sie los und versuchte, den Verdacht zu entkräften, indem sie mit ihrem Kom vor seinem Gesicht herumwedelte. Scheinbar beruhigt, tat er so, als ob ihm diese durchsichtige Ausrede einleuchtete.
„Na gut, ich muß aber jetzt weiter.“ Er knuffte sie vorsichtig auf den Oberarm, traf jedoch auf eine unerwartet große Menge massiger Muskulatur, die einem Boxer gut gestanden hätte. „Wenn du nicht zu sehr chatten mußt, würdest du mich bestimmt retten, wenn ein paar böse Jungs mich verhauen wollen und ich um Hilfe rufe, oder?“
Als Erwiderung zog sie ihre Lippen so sehr in die Breite, daß ihre Eckzähne zum dominierenden Merkmal ihres Gesichtes wurden. „Voll“, fiepste sie. „Scheddoranna-Ehrenwort!“ Und in der Tat hatte er, als er seinen Weg in Richtung Oberbaumbrücke fortsetzte, den deutlichen Eindruck, als ob die unauffälligen Blicke, die ihm von verschiedenen Passanten aus dem Emiratsmillieu zugeworfen wurden, durch ebenso unauffällige Blicke zu jemandem hinter ihm komplettiert wurden. Aber nichts weiter geschah. Tatsächlich war er, ohne es zu wissen, von hunderten Augen mißtrauisch beäugt worden, seit er sich auf der Skalitzer Straße bewegte, und diese hunderte Augen sahen auch, daß Hamide hinter ihm herging und den Augen „harmlos, aber unter meiner Bewachung“ signalisierte. Und als er über die berühmte Oberbaumbrücke ging, verschwand das türkische Mädchen ganz zufällig aus seiner Umgebung.

So verging der Vormittag des Tages Null.

MITTAG

Jabah Noun nahm den Kopfhörer ab und seufzte. Irgendetwas fehlte noch am Mix, aber für heute vormittag war sein kreatives Potential offenbar ausgeschöpft. Nun, nicht weiter schlimm, denn es war Mittagspausenzeit, und außerdem sollten gegen 12 Uhr noch Besucher aufschlagen, die sich – hoffentlich – auf eine befristete „Stellenanzeige“ hin melden würden. Piefke hatte wirklich besorgt geklungen, und angesichts der empfindlichen Hardware, in der seine Ernte wuchs, war Eile geboten. Ganz uneigennützig war Jabahs Engagement in der Sache natürlich nicht, denn immerhin verdienten beide recht gut an der Ernte, und einen so schönen Garten sollte man nicht verdorren, oder sich, wie in diesem Fall, von einem Haufen verblödeter Schwachköpfe zu Klump schlagen lassen. Er versetzte die Audio-Workstation in den Schlafmodus und schloß die Tür zum Tonstudio, um dann schnellen Schrittes die Catering-Ecke anzusteuern. 11:52. Nur noch schnell einen schönen fettigen ChickenMax, und dann wieder Geschäft.

Als er, noch auf dem letzten Stück des Riesenburgers kauend, aus purer Neugierde den Stream der Straßenfront-Kamera aufrief, verspürte er so etwas wie Enttäuschung. Dort standen zwar anscheinend zufällig zwei miteinander redende Leute am Tor, die er noch nie gesehen hatte, und die auch nicht als Kunde oder Lieferant durchgingen, aber er hatte doch auf enthusiastischere Reaktionen auf seinen in die Gegend gestreuten Aufruf gehofft. Na ja, wenigstens ein Anfang, dachte er. Punkt 12:00 versuchten die beiden dann auch, das Gelände zu betreten, beziehungsweise sich beim Einlaß um Zutritt zu bewerben. Er hörte in seinem Ohrknopf Einlasser Dimi die beiden Besucher ankündigen und gab das Grünsignal über die Lichtleitung zurück, die auch dann noch verlustfrei Informationen übertragen konnte, wenn eine der vielen lauten Parties hier im vollen Gange war. Sein Club, das „Freudenstrand“, war immer gut besucht, und das Publikum gern auch gut betucht, denn die Freunde und -innen der etwas stärker ausschweifenden Vergnügen schätzten sowohl die Möglichkeiten hier als auch die Diskretion – falls gewollt – und die durchweg gute Security. Letzteres war verständlicherweise kein Wunder, denn Jabah, der hier als „JaNu“ bekannt war, hatte mit dem Vierergespann Drogenhandel, Sicherheit, Club und Musiklabel eigentlich immer alle benötigten Dienste direkt im Haus. Und heute brauchte er für eines der Standbeine ein externes Unternehmen, um sein zweites Standbein nicht zu exponieren. Aber wozu hatte man Freelancer, wenn nicht dafür?
Ein Mitarbeiter führte schließlich die beiden Supportkräfte in den Clubbereich, wo die Besprechung stattfinden sollte. Der eine war eine eher unauffällige, dünne Norm-Erscheinung, wenn man von dem Zylinder auf seinem Kopf absah, dessen Bauart auf der Liste der beliebtesten Kopfbedeckungen schon seit etwa 150 Jahren nicht mehr vertreten war und der sich als „Aron“ (mit einem „a“) vorstellte. Der andere ein Kurzer, der auf den Namen „Bronn“ hörte. Die Aufmachung des Zwergen ließ vermuten, daß die Buchse an seinem Kopf zu einer Riggereinrichtung gehörte, und an der Statur der Bohnenstange ließ sich ablesen, daß er definitiv nicht den Boxring regierte – also wahrscheinlich eher in der technischen oder magischen Ecke tanzte. Dafür sprach auch die gelinde gesagt eigenwillige modische Linie des Kerls. Für die angebotene Dienstleistung für Piefke reichte das natürlich nicht. Trotzdem startete er die Verhandlung.
„Hallo erstmal und schön, daß ihr da seid“, begann er. „Es geht hier um einen Dienst für einen Geschäftspartner. Äh, hat einer von euch Verbindungen zu den Kreuzrittern?“ Die beiden Bewerber schüttelten vehement den Kopf.
„Gut“, fuhr der Clubbetreiber fort. „Dieser Geschäftspartner von mir hat in der Nähe von Ludwigsfelde ein Gewächshaus, das in letzter Zeit verstärkt von erwähnten Spinnern aus der Cosplay-Fraktion befallen ist. Die kommen da an und wollen Schutzgeld und so. So’n Gewächshaus ist empfindlich, also ist der Spielraum für Wortgefechte eher gering. Plan ist: hinfahren, die Deppen abpassen, Ärsche treten und dann nochmal Ärsche treten. Das kann man beliebig oft wiederholen, jedenfalls so lange, bis alle Überlebenden begriffen haben, daß sie sich mit ihren Sir-Galahad-Faschingskostümen vielleicht doch nicht nochmal auch nur in die Nähe dieses Komplexes wagen, weil sonst ihre Kostüme für ’n Preis von einem Soyburger in der Second-Hand-Community verschwinden. Mit rotbrauner Kruste drin. Hat hier jemand Bedenken beim Einsatz von meinungsverstärkenden Prozeduren?“
Aron dachte einen Moment nach, und fragte dann zurück: „Wir müssen doch davon ausgehen, daß die Herren bewaffnet sind, oder?“
Jabah fiel die Kinnlade herunter. Wollte der Dürre ihn verarschen?
Aron konnte diese Reaktion natürlich recht genau an Jabahs Gesicht ablesen und hob beschwichtigend die Hände.
„Ich mein ja nur, wegen Arma in armatos sumere iura sinunt und so. Alter römischer Rechtssatz. Ich würde ungern auf Unbewaffnete schießen müssen.“
Also war Der-Dünne-mit-Hut doch ein Kanonenakrobat, und dazu einer mit Grundsätzen? Jabah war verwirrt, brach das Nachdenken dann aber ab, als der Zwerg die Hand hob, um eine Frage zu stellen. Nach Jabahs Nicken stellte der Kurze mit tiefer brummender Stimme Die Frage.
„Klingt gradlinig, Boss. In welcher Stärke sind die da bisher aufgetaucht – und was is‘ denn da für uns drin?“
Jabah zuckte mit den Achseln. „Beim letzten Mal waren sie wohl zu sechst. Das kann sich ändern, aber das auszubügeln ist euer Bier. Ihr solltet wissen, wie ihr das macht. Bei der Vergütung haben wir mit 3000 pro Nase bei 1000 Anzahlung kalkuliert.“
Die beiden Runner wechselten einen Blick.
„Alles klar“, ergriff der Zylinder das Wort. „Wir würden uns ausgehfertig einkleiden wollen und dann nochmal hier aufschlagen, falls bis dahin noch Verstärkung am Tor eingetroffen ist, und uns dann auf den Weg ins Zielgebiet machen. Wir benötigen also noch die Kontaktdaten, Adresse und – falls erforderlich – eventuell wichtige Don’ts, wie …“ er ruderte ein wenig mit den Armen, „die kleinen Pelztiere in der Umgebung nicht mit Wasser bespritzen oder nach Mitternacht füttern oder so.“
Jabah fühlte sich zart veralbert, aber er kannte auch nicht die Referenz auf den alten 2D-Film, der vor immerhin 80 Jahren ein Renner unter Jugendlichen gewesen war. Trotzdem blieb er professionell. Da ihm daran gelegen war, daß die Kreuzritter seinem besten DeepWeed-Lieferanten fernblieben, ließ er die beiden nach Zahlung des Vorschusses sowie der Erledigung der üblichen Formalitäten gehen und wartete darauf, daß sich noch ein paar Abenteuerlustige melden würden, die Aggressionen abbauen wollten.


Draußen auf der Straße sprach Aron den Zwerg an.
„Hey, es klingt vielleicht etwas schräg, aber ich bin hier mit meinem Rucksack, und das ist alles, was ich noch hab, weil mir letzte Nacht in meiner Abwesenheit die Bude abgebrannt ist. Vielleicht könnte ich den Krempel bei dir lassen? Der is echt schwer, und da is nix drin, was ich heute brauchen könnte, weil ich in solchen Situationen eher die immaterielle Komponente beisteuer. Wär das i.O. für dich?“
Bronn legte den Kopf zur Seite und überlegte einen Moment, dann knurrte er sein Okay. „Fahr mir einfach hinterher, aber trödel nich.“
„Äh“, begann Aron. „Ich, ähm, bin hierher gelaufen.“ Bedauernd hob er die Hände. „Ich spring in deinen Kofferraum?“ Bronn grunzte belustigt, dann seufzte er. „Tses … ohne Fahrzeug in Berlin. Sowas. Jaja, schon okay, einmal Rückbank.“

Tatsächlich gab es noch eine Personalaufstockung. Beim zweiten Besuch des „Freudenstrand“ wartete ein Elf auf sie, der sich zunächst unauffällig darstellte, obwohl ihm gerade einmal sein Name „Day“ zu entlocken war. Der gab sich aber bald als Ki-Adept zu erkennen. Diese an sich durchaus wichtige Information mußten die beiden anderen ihm allerdings erst buchstäblich aus der Nase ziehen, da er sich als ziemlich wortkarg herausstellte. Zumindest galt das für Gespräche mit anderen Leuten. Auf der Fahrt nach Ludwigsfelde durften Aron und Bronn dann feststellen, daß der Elf, sobald er im Passagierabteil des Vans mit sich allein gelassen wurde, dann doch anfing zu sprechen. Zwar mit niemandem im Besonderen, aber zumindest in einigermaßen verständlicher Sprache. Über dies und das, was gerade so in den Newsfeeds Hot Topic war, über diverse Verschwörungstheorien und über etwas, das wohl seine Vergangenheit betraf, ohne daß allerdings einer der beiden anderen sich einen Reim darauf hätte machen können. Also ließen sie den Elfen mit sich selbst sprechen, und um Punkt 15:32 Uhr am 2. November des schönen Jahres 2064 trafen sie an der angegebenen Adresse ein.

Daß etwas nicht den Erwartungen des Dreierteams entsprach, deren Mitglieder eine Gewächshausanlage in einer Gartenumgebung erwartet hatten, war offensichtlich, zumindest nach dem deftigen Fluch von Bronn, der in seine Fahrzeugelektronik eingestöpselt eine deutlich bessere Sensorik vorweisen konnte. Nachdem der Ares Roadmaster um die letzte Ecke des Zufahrtsweges geschliddert war, konnten auch die anderen Mitfahrer sehen, daß deutlich zu viele Motorräder und ein schnittiger Kleinbus im Eingangsbereich der eingezäunten Anlage herumstanden, die überdies mit deutlich zu vielen Logos und begleitenden Symbolen der Kreuzritter bedeckt waren. Der Einsatz begann also bereits, bevor der Van auch nur zum Stehen gekommen war, und allen war klar, daß es keinen müden Cent von JaNu geben würde, wenn die Angreifer Ernst machten und die Anlagen beschädigen würden. Day, der Adept, reagierte zuerst. Er schnellte sich aus dem Van, zog sich blitzartig über den Gitterzaun, der die Gewächshäuser von der Umgebung abschotteten, und begann, mit seinem Ares Predator auf die Gruppe von tatsächlich sechs Kreuzrittern zu schießen, die soeben Kurs auf eines der Gewächshäuser nahmen und unter lautem Gejohle ihre diversen Schlaginstrumente kreisen oder schlenkern ließen.
Tatsächlich schienen die Kreuzritter komplett auf Gegenwehr aus Richtung des Gewächshauses eingestellt gewesen zu sein, denn jeder konnte sehen, wie überrascht sie waren, als hinter ihnen die Hölle losbrach. Nun waren ein paar Schüsse aus einer Handfeuerwaffe und zwei Versuche von Aron, die Gangergruppe mit seinen PSI-Kräften zu betäuben, nicht unbedingt dazu geeignet, Armeen in die Knie zu zwingen, aber der zwergische Rigger ließ kurzerhand ein über die Riggerkontrolle steuerbares Sturmgewehr aus einer Dachluke seines Roadmaster ausklappen, mit dem er die in Kettenhemden gekleidete Opposition in Blei baden ließ, wobei ihm die kurze Entfernung zur Gruppe der Eindringlinge den entscheidenden Vorteil verschaffte. Nach nicht einmal zehn Sekunden war alles vorbei, und lediglich ein einzelner Kreuzritter, der sich von der Gruppe getrennt und seine Maschine an nicht gut einsehbarer Stelle geparkt hatte, konnte sich noch auf das Motorrad retten und vom Schauplatz des Massakers flüchten. Fürs Protokoll schickte der Zwerg noch zwei Salven Standardmunition hinterher, aber der Zweck des Einsatzes war bereits zu drei Vierteln erreicht.
Als die drei ihre am Boden liegenden Gegner nach Schweregrad ihrer Verletzungen sortierten, öffnete sich eine Tür im Haupthaus des Gartenkomplexes, und zwei orkische Männer, gekleidet wie Gärtner, lugten vorsichtig aus der Öffnung. Bronn, außerhalb seines Gefährtes längst nicht so furchterregend wie am Rig, winkte ihnen zu. „Hey, cool bleiben, Jungs. JaNu schickt uns, weil wir euch ein wenig unter die Arme greifen sollten. Ihr habt wohl so’n“, er warf einen bezeichnenden Blick nach unten, „äh, ’n gewisses Schädlingsproblem hier, und wir sind wohl gerade noch rechtzeitig angekommen, was?“
Die beiden Gärtner entspannten sich und kamen näher. „Oh, JaNu, sagst du?“ Der eine der beiden schien den Namen zu kennen. „Das is doch der, der immer unsere Ernte ordert, oder?“ Der andere hatte nur Augen für die immer noch herumliegenden Blechhemdenmänner. „Sind die … sind die tot?“
Aron wollte impulsiv und ehrlich antworten, sah dann aber diesen Schimmer in den Augen des Orks und war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob er wissen wollte, warum der Gärtner diese Frage gestellt hatte. Während er nach einer harmlosen Antwort suchte, erschien in der Türöffnung eine weitere Gestalt: ein recht dunkelhäutiger Elf, für einen Elfen etwas überdurchschnittlich groß und recht muskulös, mit einem langen dünnen Kinnbart nach asiatischer Kung-Fu-Trid-Art. Er hielt einen Revolver in der Hand, den er aber sogleich wieder in den Gürtel steckte, als er auf die Gruppe zutänzelte.
„Hi. Ich habe ‚JaNu‘ gehört? Das war ja dann ein krasser Zufall. Die Nachricht kam erst vor einer Stunde rein, daß ich Verstärkung bekomme. Ich bin Piefke. Schön, daß ihr gerade noch rechtzeitig eingeritten seid. Die beiden hier sind Mork“, er deutete auf den etwas kleineren, aber verständiger wirkenden Ork, „und Jengo.“ Er klapste dem größeren, immer noch am Zustand der Kreuzritter unnatürlich interessierten Helfer auf die Schulter. „Sie helfen mir beim Gärtnern.“ Und leise fügte er, an Jengo gewandt, hinzu: „Jetz‘ glotz nich‘ so, Mann!“ Piefke streckte dann ganz oldschool seine Rechte aus und schüttelte reihum die Hände. Mit einem Seitenblick auf die zumeist regungslosen Gestalten in ihren Kettenhemden kommandierte er seine Helfer zur anstehenden Aufgabe.
„So, zack-zack jetzt. Kettenhemden abnehmen, alles auf einen Haufen, was ihr bei denen findet und dann nach hinten damit.“
Jengo schien nur darauf gewartet zu haben, denn er zögerte keinen Moment damit, sich sofort daran zu machen, am nächstliegenden Kreuzritter herumzuzerren, um ihm das Metallkleid zu entfernen. Aron, der sehen konnte, daß die Aura des Kreuzritters bereits verblaßt war, wurde ein wenig schlecht. Er entschied sich, nicht danach zu fragen, was „da hinten“ mit den Körpern geschehen würde, und Piefkes Gesichtsausdruck tat ein übriges dazu, auch Bronn und Day davon zu überzeugen, daß es Dinge gibt, die man nicht wirklich unbedingt in allen Einzelheiten wissen mußte.
Während Jengo und Mork die Toten und Bewußtlosen davontrugen und -schleiften, schien sich Piefke gedanklich mit naheliegenderen Dingen zu beschäftigen. Ohne eine Regung erkennen zu lassen, fragte er seine Retter:
„Braucht jemand von euch ’n Moped? Da stehen neben dem Van vier in der Einfahrt, und ich hab nich‘ so viel Platz.“ Er deutete auf die ziemlich gut gepflegten Yamaha Rapier, die sorgfältig und in Reihe geparkt die Einfahrt blockierten, und Aron erinnerte sich, daß er Bronn heute schon als Taxi mißbraucht hatte. Der Zwerg hatte nicht wirklich Widerstand geleistet, aber es war dem PSI-Begabten durchaus unangenehm, sich dem Rigger geradezu aufgedrängt zu haben. Mit leichtem Zögern hob er die Hand und sagte langsam: „Ich… äh, ich würd eine nehmen. Mobil sollte man ja sein.“ Daß die Motorräder ziemlich sicher nie wieder zu ihren Vorbesitzern finden und neue Maschinen für frisch Mittellose keinesfalls einfach so vom Himmel fallen würden, machte ihm diese schamlose Leichenfledderei nicht eben einfacher, aber die Zeiten waren hart, und er war immer stolz darauf gewesen, seinen Weg allein zu finden, ohne andere Leute regelmäßig um Gefallen zu bitten. Aus dem Augenwinkel sah er Bronn dann auch fast unmerklich nicken, als er sich um eines der Kraftpakete bewarb. „Nur“, er sah nach hinten, wo die Räder herumstanden, „die dümmlichen Aufkleber würd ich noch abkratzen, bevor ich mich damit auf die Straße wage. Sonst gibts noch Unfälle.“
Piefke ließ seiner Heiterkeit freien Lauf. „Hahaha, kannste laut sagen, Bohne. Aber das kann warten. Kommt erstmal rein und genehmigt euch was gutes.“

So verging der Nachmittag des Tages Null.


ABEND

Staunend standen die Stadtleute vor der Reihe an Wassertanks. In den wie deutlich zu groß geratenen Aquarien aussehenden Glasbehältern, die von oben violett beleuchtet wurden, wogte ein Gewirr aus Pflanzen, zwischen denen ab und zu kleine Fischlein umherschwammen.
„Das hier“, begann Piefke, „ist DeepWeed, wegen dem euch JaNu hergeschickt hat. Er ist mein Hauptabnehmer und möchte natürlich nicht, daß seine Quelle versiegt. Is‘ hierzulande schwer zu ziehen, weil es nur in tropischen Gewässern wächst und so relativ aufwendig in der Haltung ist, aber es ist beliebt, hat ’ne gute Marge und knallt ordentlich. Der Wirkstoff is‘ ein Mix aus einem Alkaloid aus der Nikotingruppe und einem Cannabinol, einer Variante, die irgendwas mit erwachtem Zeug zu tun hat. DeepWeed gilt als Critterpflanze, und wenn man den Shit raucht, hat das auch noch einen Nebeneffekt: Erwachte können, naja, eigentlich: müssen, dann astral wahrnehmen. Is‘ ein ordentlicher Ballermann, kann ich euch sagen. UNBEDINGT probieren.“
Day starrte in die Becken und sprach das erste Mal seit seinem Ausstieg aus dem Einsatzfahrzeug. „Und die Fische? Knallts bei denen auch?“
Piefke feixte wie ein Honigkuchenpferd. „Hehe, ja, aber die gehen da eigentlich nicht ran. Die sind nur fürs Biom. Fressen Bakterienrasen ab und so. Unermüdliche kleine Helferlein, die. Ohne die müßte ich noch fünf Leute beschäftigen, die bei der Ernte die Gammelblätter rausholen, denn die machen nur Kopfschmerzen. Dafür dürfen sie auch mal knabbern. Dann drehen die ziemlich lustige Loopings da drin. Aber wie gesagt, passiert nur sehr selten.“ Er winkte den Runnern zu, ihm zu folgen. Durch eine Seitentür gelangten sie in den Wohnbereich des Hauses, und als sich alle in die bequemen Sessel gepflanzt hatten, bot Piefke jedem von ihnen einen DeepWeed-Joint an. Aron und Day verneinten, wohl wissend, daß erzwungene astrale Wahrnehmung auch unangenehme Konsequenzen haben konnte, lockte man doch damit auch Bewohner des Astralraums an, die eher weniger spaßige Absichten hatten, aber Bronn war in Experimentierlaune und als „Maschinenmensch“ gegen die astralen Risiken gefeit.

Sie ließen es sich einige Stunden lang gut gehen und vergaßen Ort und Zeit, doch irgendwann ließ die Wirkung des Weeds nach, und der Anbauexperte und der Zwerg wurden wieder klarer. Die altmodische Pendeluhr, die Piefke in einem Anfall von Wahn bei einem windigen Antiquitätenhändler für viel zu viele Euros gekauft hatte, schlug gerade 20 Uhr.
„Du bist in Ordnung, Mann“, säuselte Piefke, an Bronn gewandt. „Pass uff, da ihr jetzt sowieso hier seid, könntet ihr auch gleich eine Lieferung übernehmen. Ich hab da nämlich gerade eine vorbereitet. Wir machen das so: ich geb dir die Ernte mit, die du dann bei JaNu abgeben kannst. Dafür geb ich dir nochmal 4 Dosen. Du kannst natürlich auch noch mehr hier und jetzt von mir kaufen.“ Er sprang auf, huschte in einen Nebenraum und kam mit einem litergroßen Paket wieder.
„Hier. 40 Dosen. Ich sag JaNu, daß wir im Geschäft sind, und wir alle haben was gewonnen. Deal?“ Bronn zögerte nicht. Auch die anderen deckten sich mit ein paar Dosen zum Supersonderspottpreis ein, dann standen die Runner auf, verabschiedeten sich und begaben sich zu Bronns Fahrzeug. Auf einmal hörten sie Piefke hinter sich rufen. „Hey, nich so schnell. Bohne, du wolltest doch eine Yamaha!“ Aron blieb stehen. Stimmt, das hatte er völlig vergessen. Der Weedbauer hielt ihm eine Handvoll Aktivatoren für Motorräder hin. „Hier. Welcher Schlüssel zu welchem Moped gehört, mußt du selbst rausfinden. Und das hier wirst du auch brauchen.“ Verschmitzt lächelnd reichte er Aron noch einen kleinen Eimer Farbe. „Oder wolltest du mit allen Insignien eines Kreuzritters durch Berlin fahren?“
Aron wurde blaß. Nein, das wäre echt keine gute Idee gewesen. Schnell wurden die diversen Logos überpinselt. Sah scheiße aus, fand Bronn, war aber in der Kürze der Zeit nicht besser zu machen. Zum Schluß kam Piefke dann noch mit den Brownings der Kreuzritter an, die Jengo und Mork in deren Kostümen gefunden hatten. „Hier, nehmt die mit“, spuckte er mit verächtlichem Unterton aus. „Was kein Revolver is, nehm ich nich‘.“
Zum Glück war Bronns Roadmaster groß genug für die Pistolen.

Als die Rücklichter des Vans hinter der nächsten Wegbiegung verschwanden, aktivierte Piefke sein Kom, um JaNu anzurufen. Er wartete ein paar Sekunden, dann wechselte sein Gesichtsausdruck zu einer Maske des Unglaubens. Er unterbrach die Verbindung und stellte sie wieder neu her. Das hieß, er versuchte es. Die Verbindung kam nicht zustande.
Beunruhigt ging er zurück ins Haus. Dort startete er sein Deck und öffnete gleichzeitig sein normales Matrixterminal. Beide Geräte zeigten übereinstimmend ein Offline-Icon. Nun war er wirklich beunruhigt. Als nächstes versuchte er das Trid. Wieder ein Offline-Icon. Aber immerhin in 3D.
Seine Stimmung driftete langsam in Richtung Panik. Er war nicht mehr der Jüngste, aber ein Totalausfall der Matrix war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Er rannte fast in den Keller, wo er den Funk-Breitbandtransceiver wußte. Er hatte ihn seit fast sieben Jahren nicht mehr benutzt, weil nach ’55 ein Stück Normalität in der Anarcho-Stadt Berlin eingekehrt war und seine Kunden und Partner keinen Piratenfunk mit modifizierter CB-Technik mehr nutzen mußten. Nun war es Zeit, herauszufinden, ob es noch Breaker gab oder ob die Vertragscops auch noch was konnten.
Als das Gerät lief, war er fast erleichtert. Im Grid war die Hölle los. Alle möglichen Bänder waren voll mit Funkern, die sich gegenseitg störten, weil sie auf zu wenig Frequenzen zu viel ins Mike zu schreien hatten. „A10 eine einzige Blechparty“, also Massenkarambolagen auf der Ringautobahn um Berlin, hörte er heraus, „Angriff von unbekanntem Militär“, schrie einer, und ein anderer, der auf einem anderen Band von Außerirdischen fabulierte, dazwischen eine „Uroma“, ein deutlich über alle gesetzlichen Limits verstärkter Sender, der nur ein Krachen aus den Lautsprechern produzierte, obwohl das Wort „Europa“ klar durchkam. Kurz: totale Hölle.
Selbst als er auf die Polizeifrequenz wechselte, die eigentlich leer sein sollte, weil natürlich niemand so dumm sein sollte, analog und unverschlüsselt in diesem beginnenden Ausnahmezustand Kommunikation, die die Bevölkerung verunsichern könnte, in die Gegend zu pusten, hörte er Stationen, die sich gegenseitig mit – natürlich – unbekannten Codeworten bewarfen. Offensichtlich waren die ach so gegen alle denkbaren Störungen der Übertragungen abgesicherten Kanäle der Behörden und Polizeifirmen genauso den Bach hinuntergegangen wie die vielen Tridkanäle, die bei ihm abends ins Heim flatterten. Langsam dämmerte ihm die Erkenntnis, soeben an einem der beiden wichtigsten und stärksten umwälzenden Ereignisse des 21. Jahrhunderts teilzunehmen, und das andere war bereits im Jahr 2011 Wirklichkeit geworden.
„Na prost“, war das einzige, was er noch herausbekam, bevor er in den Sessel sank.


„Okay, Mann“, rief Bronn nach hinten, als er seinen Fahrmodus auf Level Zwei reduziert hatte und somit nur noch die erweiterte Sensorik des Fahrzeugs ins Wachbewußtsein gestreamt bekam. Das gab ihm die Möglichkeit, auf manuelle Steuerung umzuschalten, ohne sich wie ein Vierjähriger auf einem Dreirad zu fühlen. „Wir haben ein Problem. Also, nicht nur wir, aber es ist da, und das mit Schmackes. ALI ist down.“ Day, der gerade die geschenkten Waffen säuberte, hob nicht einmal den Kopf, sondern schnaubte nur einmal durch die Nase. „Kannst du manuell?“
Jetzt war es an dem Rigger, ein kurzes verächtliches „Pff“ auszustoßen, das natürlich im Lärm des rollenden Vans unterging. „Klar kann ich, aber was meinst du, was hier für Piepen rumkacheln, die ohne Leitsystem gegen den nächsten Pfeiler ballern? Wenn wir Pech haben, ist in Berlin keine Straße mehr ordentlich befahrbar und … oh, Mom.“ Er senkte seine Seitenscheibe und versuchte, über die Windgeräusche Arons Stimme zu verstehen, der sein neues Motorrad neben den Van bugsiert hatte. Er reduzierte langsam seine Geschwindigkeit, um den Zauberer nicht zu sehr brüllen lassen zu müssen, und Aron verstand. Dann wiederholte der seine Frage. Day verstand sie nicht, aber Bronns Antwort war eindeutig. „Nein“, schrie der Zwerg, „bei mir auch. Kann nicht an mir liegen, und wenn du fragst, ob das ein Prob ist, dann gibts von mir ein dickes JA!“
Aron schrie wieder etwas, und Bronn erwiderte abwehrend „Nein, bloß nicht. Laß uns zusammenbleiben, also fahr von mir aus 100m voraus, aber nicht mehr. Und bleib auf 90. Du kannst jederzeit mit spontanen Massenunfällen rechnen.“ Aron hob den Daumen und setzte sich vor den Roadmaster.
Natürlich war der Ausfall des Verkehrsleitsystems nicht ohne Herausforderungen vonstatten gegangen. Wie von Bronn erwartet war es bereits an der Auffahrt zur 101 zu Unfällen gekommen, und viele der Feierabendfahrer, die nun im Blechknäuel steckten, schienen mit der Möglichkeit, daß es keine durch automatischen Notruf herbeigerufene Feuerwehr geben würde, stabil überfordert. Der Rigger lenkte sein Fahrzeug des öfteren über die grüne Wiese, um an den Wracks der teuren, auf das Leitsystem angewiesenen Limousinen herumzukommen, deren Verwendungsfähigkeit sich nun auf das Abspielen lokal gespeicherter Medieninhalte beschränkte. Zumindest, wenn sie nicht gerade brannten. Wenn das Szenario, das sich dem Trio hier bot, überall in der ADL so aussah, dann war nach Bronns Einschätzung das Komplettversagen des ALI vergleichbar mit einem Terroranschlag, von dem man noch Jahrzehnte sprechen würde. Noch ahnten die Runner nicht, daß sie in näherer Zukunft herausfinden würden, daß der eigentliche Grund für das Zusammenbrechen der Verkehrskontrolle nicht auf die ADL beschränkt war, sondern tatsächlich sogar globale Ursachen und genauso globale Auswirkungen hatte.


22:37 Uhr. Die letzten zwei Stunden Autofahrt hatten an Arons und Bronns Nerven gezehrt. Wer einmal versucht hat, ein Kriegsgebiet zu durchqueren, konnte das nachempfinden. Natürlich war der gepanzerte Van eine schicke Garantie gewesen, seine Insassen vor Schaden zu schützen, aber der stolze Besitzer des Fahrzeugs hatte es nicht darauf angelegt, schon zum zweiten Mal in diesem Herbst umfangreiche Reparaturen an seinem Baby vorzunehmen. Und das hatte die Situation etwas verkompliziert. Zwar war Berlin im Vergleich mit anderen europäischen Großstädten eher weitläufig gebaut, aber trotzdem war es ansteigend schwierig geworden, mit einem Ares Roadmaster, der aufgrund seiner Maße nur gerade noch so nicht als Schwertransporter angesehen wurde, in die Berliner Innenstadt vorzudringen. Nachdem sie bei JaNu Bericht erstattet und die Belohnung für den erfolgreichen Abschluß der Disziplinarmaßnahme eingestrichen hatten – und dies aus aktuellen Gründen das erste Mal in ihrer aller Leben ausgerechnet in echten verwendbaren Münzchips der Art, wie sie noch vor drei Tagen höchstens einige paranoide Lowtekker angenommen hätten, weil die in beständiger Angst vor dem Zusammenbruch der Zivilisation lebten – , später dann den elfischen Adepten auf dessen Wunsch an der Sonnenallee hinausgelassen hatten und auf der Hasenheide einer mittleren Straßenschlacht entgangen waren, bei der sich mehrere zivile Parteien unidentifizierbarer Zugehörigkeit beharkt hatten, waren sie nun im Bergmannkiez angekommen. Hier brannten zwar keine Autowracks, aber auch hier standen überall im Stau verknotete Blechkolonnen in der Gegend und verstopften wie zu schönsten Stauzeiten die Straßen.
„Und jetzt“? Aron starrte mißmutig die Kopfsteinpflasterpiste entlang, als Bronn den Van vor dem Haus zum Stehen gebracht hatte, in dem sich seine Garage befand. „Ich mein, umme Ecke ist die Copperei-Zentrale, aber die sind wahrscheinlich gerade alle irgendwo und im Panikmodus. Wir werden uns erstmal selbst helfen müssen, und ich denke, ich würde meine neue Brotdose auch ungern auf der Straße stehen lassen. Außerdem sollten wir deine Garage wetterfest machen. Gibt es einen Grund, warum ich das Teil nicht auf den Hof fahren kann?“
Bronn bohrte demonstrativ in der Nase, als müsse er schwer nachdenken. „Naja … da sind ein paar junge Ghule, die die schattigen Plätze im EG gegenüber der Garage bewohnen. Das riecht manchmal ein wenig streng. Wenn deine Yamaha also etwas empfindlich ist …“
„Klopskopp“, unterbrach ihn der Psioniker. „Manus manum lavat. Du hilfst mir ein wenig mit der Maschine, und ich helfe dir mit Sicherheitsleistungen oder Gefahrenabwehr und so weiter. Ich finde hier auch bestimmt was direkt in Sichtweite, wo ich bleiben kann. Wie wärs?“
Diesmal mußte der Zwerg nicht so lange überlegen.

Und so endete Tag Null.

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